Insulin: vom Bauchspeicheldrüsen-Extrakt zur modernen Therapie
Diabetes Versteckt hinter dem Magen liegt die Bauchspeicheldrüse. Diese produziert nicht nur Verdauungssekrete. In ihr finden sich inselförmig eingelagerte Zellgruppen, von denen einige das Inselhormon Insulin produzieren – einen der wichtigsten Botenstoffe des Körpers.
Insulin erfüllt im Körper zahlreiche Aufgaben, deren bekannteste die Steuerung des Blutzuckerspiegels ist. Darüber hinaus spielt dieses Hormon eine wesentliche Rolle im Eiweiß- und Fettstoffwechsel.Im Kohlenhydratstoffwechsel fördert Insulin vor allem die Aufnahme von Zucker (Glukose) aus dem Blut in die Körperzellen und unterdrückt die körpereigene Glukoseproduktion durch die Leber. Auf diese Weise wird der Blutzuckerspiegel im physiologischen Bereich gehalten.
Damit dies gelingt, haben die Insulin-produzierenden Zellen Sensoren, die - vergleichbar einem Thermostaten - die Glukosekonzentration im Blut permanent messen und die Ausschüttung von Insulin ins Blut genau an den Bedarf anpassen. Zur Feinregulation steht Insulin unter Kontrolle zahlreicher anderer Hormone, die entweder die Ausschüttung von Insulin hemmen oder die Wirkung von Insulin an den Zielzellen abschwächen. Hemmend auf die Wirkung von Insulin wirken vor allem Stresshormone, wie Adrenalin und Cortisol.
Für die Behandlung der Zuckerkrankheit wird Insulin seit den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts eingesetzt. Die erste erfolgreiche therapeutische Anwendung des „Bauchspeicheldrüsen-Extrakts“ erfolgte am 11. Jänner 1922 in Toronto an Leonard Thompson, einem 14-jährigen Jungen mit Typ-1-Diabetes. Bereits mit dieser unausgereiften Form der Insulintherapie gelang es rasch, eine unausweichlich tödliche Erkrankung in eine chronische Stoffwechselstörung zu überführen.1923 erhielten Frederick G. Banting und John McLeod für die „Entdeckung von Insulin“ den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
Enorme Weiterentwicklung
Seit diesen ersten Versuchen haben sich in Bezug auf die Gewinnung und Reinheit der Insuline, die Steuerbarkeit der Insulinwirkung, die Therapieformen und nicht zuletzt auch bezüglich der Möglichkeiten zur Insulinverabreichung dramatische Veränderungen vollzogen. Die bis zu den 1980er-Jahren ausschließlich verfügbaren tierischen Insuline (Schwein, Rind) waren noch unrein und ihre Gabe war oft von Immunreaktionen begleitet (allergische Reaktionen, Wirkverlust durch Antikörper). Außerdem waren ihre pharmakologischen Eigenschaften sehr variabel und schwer vorhersagbar. Den großen Durchbruch stellt vor diesem Hintergrund sicher die Einführung der gentechnischen Herstellung von menschlichem Insulin (Humaninsulin) Ende der 1970er-Jahre dar, welches tierisches Insulin in der Diabetesbehandlung de facto abgelöst hat. Durch Modifikationen an der Struktur des Humaninsulins wurden in der Folge sogenannte Analog- oder Designer-Insuline entwickelt, mit denen die Therapie noch näher an die physiologische Situation angenähert werden kann, wenn dies notwendig ist.
Wie funktioniert die moderne Insulintherapie?
Insulin wird entgegen der landläufigen Meinung nicht nur dann ausgeschüttet, wenn kohlenhydratreiche Mahlzeiten eingenommen werden. Bereits im Nüchternzustand schüttet die Bauchspeicheldrüse relevante Mengen an Insulin aus, über den Tag betrachtet in etwa gleich viel wie zu den Mahlzeiten. Diese Basisausschüttung steigt sprunghaft an, wenn Nahrung aufgenommen wird. Dabei hat die Zusammensetzung der Mahlzeit wesentlichen Einfluss auf die Mahlzeiten-bezogene Insulinfreisetzung: schnell resorbierbare Kohlenhydrate stellen einen wesentlich stärkeren Reiz für die Insulinausschüttung dar als komplexe Kohlenhydrate oder Eiweiß.
Entsprechend der physiologischen Insulinfreisetzung wird mit der Insulintherapie versucht, das Insulinprofil eines Gesunden nachzuahmen. Es gibt Insuline, mit denen der mahlzeitenunabhängige Basalbedarf abgedeckt wird, sog. Basalinsuline mit langsamem Wirkeintritt und langer Wirkdauer. Ergänzend dazu stehen Insuline zur Verfügung, mit denen im Rahmen von Mahlzeiten auftretende Blutzuckerspitzen abgefangen werden, sog. Mahlzeiteninsuline mit schnellem Wirkeintritt und kurzer Wirkdauer. Der Unterschied zwischen diesen Insulintypen liegt aber nicht in der Wirkung an den Zielgeweben. Ob ein Insulin als Basal- oder Mahlzeiteninsulin wirkt, liegt vielmehr an der Geschwindigkeit, mit der es aus dem Unterhautgewebe in den Kreislauf aufgenommen wird. Dies wird durch Modifikationen im Aufbau des Insulins erreicht. Alle bislang erfolgten Entwicklungen im Insulinbereich zielen hauptsächlich darauf ab, die Zeit von der Verabreichung unter die Haut bis zum Übertritt ins Blut zu steuern.
Neben lang wirksamen Basalinsulinen und kurzwirksamen Mahlzeiteninsulinen gibt es die Gruppe der Mischinsuline. Hier sind Mahlzeiteninsulin und Basalinsulin in einem Präparat vorgemischt. Misch-insuline kommen v.a. bei Typ-2-Diabetes zur Anwendung. Unterschiedliche Mischverhältnisse erlauben eine individuelle Anpassung an die Bedürfnisse des Diabetikers.
Absoluter und relativer Insulinmangel
Bei Typ-1-Diabetes, bei dem die körpereigene Insulinproduktion fast oder völlig erloschen ist, muss der gesamte Insulinbedarf durch exogen zugeführtes Insulin gedeckt werden. Da der Körper hier keine Insulinreserve mehr besitzt, muss die Insulintherapie bei Typ-1-Diabetes sehr präzise an die Ernährung und die körperliche Aktivität angepasst werden.
Anders liegen die Verhältnisse bei Typ-2-Diabetes. Bei dieser im Rahmen von Übergewicht und Adipositas auftretenden Form der Erkrankung produziert der Körper oft noch beträchtliche Mengen an Insulin – in den frühen Stadien mehr als bei einem normalgewichtigen Gesunden. Das Problem: bei Typ-2-Diabetes ist die Wirkung des Insulins an den Zielgeweben verringert. Dieser als Insulinresistenz bezeichnete Zustand ist eine Schlüsselstörung bei diesem Krankheitsbild. Solange die Bauchspeicheldrüse ausreichend Insulin (über)produzieren kann, um diese Insulinresistenz zu überwinden, bleibt auch der Blutzucker in einem nicht-diabetischen Bereich. Tritt jedoch eine z.T. genetisch vorbestimmte Schwäche der Insulin-produzierenden Zellen hinzu, kann die Insulinresistenz nicht mehr kompensiert werden. Man spricht in diesem Fall von einem relativen Insulinmangel, der nun gegebenenfalls auch einer Insulintherapie bedarf.
Während bei Typ-1-Diabetes Insulin sofort und als einziges Medikament zur Behandlung des Blutzuckers eingesetzt wird, kommt man bei Typ-2-Diabetes zunächst mit Tabletten aus, die entweder gegen die Insulinresistenz wirken, die körpereigene Insulinproduktion unterstützen oder zu einer vermehrten Glukoseausscheidung über die Niere führen. Kann mit diesen Medikamenten die individuell erforderliche Stoffwechseleinstellung nicht aufrecht erhalten werden, kommt Insulin zum Einsatz.
Therapie an den Lebensrhythmus anpassen
Da der Typ-2-Diabetiker meist noch über eine körpereigene Insulinproduktion verfügt, wird mit der Insulintherapie die körpereigene Insulinproduktion nicht ersetzt, sondern lediglich unterstützt. Dies erlaubt häufig sehr einfache Therapiekonzepte zum Einstieg in eine Insulintherapie. Meist wird mit einer einmal täglichen abendlichen Insulingabe zum Abendessen oder zum Schlafengehen begonnen. Dies kann mit einem Basalinsulin oder einem Mischinsulin erfolgen. Erreicht wird damit, dass die Glukoseproduktion durch die Leber während der Nacht unterdrückt wird und gute Blutzuckerwerte in der Früh erreicht werden.
Die morgendlichen Werte liefern dann die Grundlage für den restlichen Tag. Reicht diese Form der Behandlung nicht aus, kann zusätzlich ein Mahlzeiteninsulin zum Einsatz kommen oder das Mischinsulin mehrmals täglich verabreicht werden. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Formen ist, dass das Mahlzeiteninsulin eine höhere Flexibilität erlaubt, da es leichter an die Mahlzeitengröße oder, oft wichtiger, an das Auslassen von Mahlzeiten angepasst werden kann. Die Behandlung mit Mischinsulin bedarf eines relativ konstanten Tagesablaufs, sie ist aber meist einfacher und mit weniger Injektionen umzusetzen.
Nach zahlreichen Studienergebnissen sind beide Strategien bezüglich der zu erreichenden Blutzuckereinstellung vergleichbar.
Entscheidend für die Therapiewahl sind eher Blutzuckerprofil, Tagesablauf und nicht zuletzt auch die Wünsche des Betroffenen.
Spritzen passé
Im Gegensatz zu den USA wird Insulin in Europa heute in der Regel nicht mehr mittels Spritze verabreicht. Heute stehen stattdessen sogenannte Pens zur Verfügung. Dies sind Füllfeder-ähnliche Geräte, die mit Insulinpatronen gefüllt werden oder bereits mit Insulin vorbefüllt sind. Mittels eines Drehrades kann die Insulindosis eingestellt und per Knopfdruck über feine Nadeln abgegeben werden. Zunehmend werden bei speziellen Situationen auch programmierbare Insulinpumpen eingesetzt.